Nicht Kreuzberg. Auch nicht Mitte. Sondern im Wedding. Zwischen Wohnblock, Kirche und einer internationalen Schule. Da hat das Berliner Softwareunternehmen Contentful seinen neuen Hauptsitz. Von außen kaum zu erkennen in einem sachlichen Glasfassaden-Neubau. So weit, so unspektakulär.
Und eigentlich könnte es auch so weiter gehen, wenn da nicht die spektakulären Erfolge des Startups wären: Mit seinem Headless CMS-System bedient Contenful mittlerweile die größten Firmen – und das weltweit: Siemens, Plaid, Danone, Bang & Olufsen, Zalando und N26. Spotify, Heineken, Wework, Chanel und die Tui. Alle nutzen Contentful. Denn was die Software macht, brauchen alle: Eine Möglichkeit, einfach, schnell und ohne groß zu programmieren, die Inhalte sämtlicher Digitalauftritte ständig neu bearbeiten und aktualisieren zu können. Also all den Content, der auf den firmeneigenen Webseiten und Apps steht.
Die Investoren des Startups? Ebenfalls erste Liga: Tiger Global, Sapphire Ventures, General Catalyst und Salesforce Ventures haben investiert, ebenso die Base 10 Advancement Initiative und Tidemark, Balderton Capital, Benchmark, Hercules und Point Nine Capital. Und letzten Sommer dann das: Mit einer Series F in Höhe von 148 Millionen Euro schnellt Contentful auf Unicorn-Level. Mit einer Bewertung von rund drei Milliarden Dollar (2,5 Milliarden Euro) residiert dort im Wedding auf 8.200 Quadratmetern nun eigentlich also sogar ein dreifaches Einhorn. Nur eben ein sehr, sehr leises.
Das nigelnagelneue Headquarter von Contentful
Leise ist es auch auf den Gängen des neuen Büros. Die Pandemie scheint noch
nachzuwirken, viele der 350 Berliner Mitarbeiter bleiben noch im Homeoffice oder nutzen die Möglichkeit, frei zu entscheiden, von wo aus sie arbeiten möchten. Jedenfalls sind die meisten Tische noch leer, stehen Meetingräume frei, nutzt gar keiner die vielen top ausgestatteten Arbeitsräume mit Bildschirmen an allen Wänden, die gemütlichen Sitzecken, die Massagesessel, die großzügigen Küchen auf jedem Stockwerk, den Yoga-Raum, den Kinder-Bereich, den Gebets- und Meditationsraum.
Ja, alle diese Annehmlichkeiten gibt es hier. Inklusive eines Raumes, in dem Mitarbeitende sich für das muslimische Gebet Gesicht, Hände und Füße waschen können und eben der Möglichkeit, sich für ein Nickerchen in eine Art Schlafkapsel zurückziehen zu können. Dort kann man per Handy-App das Licht so einstellen, dass man besonders gut einschlummern kann. „Lighttherapy“, erklärt Alecia Baker, Workplace Team Manager bei Contentful, während sie eine kleine Gruppe Besucher aus dem Nap-Room heraus und durch einen Gang führt, an dessen Wänden echtes Moos wächst.
Fast zwei Jahre, berichtet Baker weiter, wurde hier gebaut. Nun hofft sie, dass trotz der Home Office Gewöhnung währen dieser Zeit bald viele ihre neuen Büros nutzen. Es sei den Chefs stets wichtig gewesen, dass Mitarbeitende sich einbringen und Wünsche äußerten, was sie von ihrem idealen Arbeitsplatz erwarten würde. Was sie brauchten, um ihren Arbeitsplatz für nichts verlassen zu müssen, sagt sie und kurz klingt das nach der alten Google- und Facebook-Logik von vor zehn Jahren: Sorge
mit allem von Sportangebot über gratis Mittagessen bis zur Gaming-Area dafür, dass deine Mitarbeiter möglichst viel Lebenszeit an ihrem Arbeitsplatz verbringen (wollen). Aber eigentlich geht es, wie Baker und etwas später auch ihr Kollege Paul Biggs, Chef des Produktmarketings, berichten, um etwas anderes: Als Tech-Unternehmen muss man Mitarbeitern viel und immer mehr bieten, um Talente anzuziehen und halten zu können. Neben dem nagelneuen Büro in Berlin gibt es einen Contenful-Standort in San Francisco, etwas kleiner wohl, und in Denver, diesem hier nicht unähnlich. Denver sei eine bewusste Wahl gewesen: Eine Stadt in sogenannter B-Lage, in der der Kampf um Talente nicht ganz so sehr tobt. Insgesamt kommt Contenful so auf 750 Mitarbeitende – die meisten davon, glaubt man zumindest den Kununu-Bewertungen, überdurchschnittlich zufrieden mit ihrem Job hier.
Kultur und Vision sind wichtig – Tagesgeschäft aber auch, sagt Contentful-Gründer
„Wenn die Kultur nicht stark ist, driftet das gesamte Team auseinander“, sagt Gründer Sascha Konietzke, wenn man ihn darauf anspricht. Trotzdem sei ihm auch immer im Kopf geblieben, was ihm ein Mentor vor Jahren mitgegeben habe: Die großen Themen, Kultur und Vision etwa, sind wichtig. Trotzdem dürfen sie nicht zu so großen Luftschlössern werden, dass sie die Sicht auf das Tagesgeschäft verstellen. Man müsse trotzdem schauen, ein Produkt auf die Straße zu bringen. „Sonst habt ihr hier ein tolles Konzept, aber seid in zwölf Monaten pleite“, habe der Mentor damals zu ihm gesagt.
Die Balance zwischen großen unternehmerischen Plänen und ganz konkreter, guter Arbeit – vielleicht ist das sogar das Erfolgsrezept von Contentful: 2012 lernen sich die beiden Gründer Sascha Konietzke und Paolo Negri auf einer Netzwerk-Veranstaltung in Berlin kennen und beschließen wenig später, gemeinsam ein Unternehmen zu gründen. „Dadurch, dass wir schon ziemlich früh angefangen haben, gab es bei uns eher weniger Geld von Investoren. Damals waren Investoren sehr konservativ“, sagt Konietzke. „Dementsprechend mussten wir immer sehr viel Fokus auf unseren eigenen Umsätzen haben, was aber sehr hilfreich war. So haben wir uns nie so sehr abhängig von Investoren gemacht.“ Man konnte sich nicht in Planungen und Ideen verlieren, es musste anwendbare Software her, die Probleme löst, damit Kunden diese kaufen und das Berliner Software-Unternehmen Geld verdienen konnte.
Wichtigster Wert: Bescheidenheit
Entsprechend unglamourös seien auch die ersten Jahre im alten Office gewesen, berichtet Co-Gründer und CTO Paolo Negri: Da habe man schon sehr auf die Kosten geachtet und dass einer der Mitarbeiter nach seinem Umzug nach Berlin ein paar Wochen im Büro gewohnt hat – nun, das gehörte eben so zum echten Startup-Dasein dazu. „Das war alles sehr bescheiden dort“, sagt er. Auch Sascha Konietzke spricht von Bescheidenheit – aber als ein Wert, der seinem Unternehmen innewohne und guttue. Von seinem Team wünsche er sich stets Offenheit gegenüber den Gedanken der anderen.
Dass sie mit Contentful vielleicht aber an etwas Größerem arbeiten als einem durchschnittlich erfolgreichen, Berliner Software-Startup mit einer Matratze in der Ecke, sei ihm dann während seiner ersten Dienstreise in die USA 2014 bewusst geworden: Da hatte sich das Digital-Wahlkampfteam von Hilary Clinton mit ihm treffen wollen, um seine Software genauer kennenzulernen.
Contentful-Gründer Sascha Konietzke programmiert seit er 15 war
Schon als Jugendlicher in Stuttgart beginnt Sascha Konietzke zu programmieren, arbeitet als Webmaster in einem Startup, später studiert er Wirtschaftsinformatik und bekommt einen Job bei Hewlett-Packard. „Mir ist dann aber eigentlich gekommen, dass ich immer am meisten gelernt hatte durch selber probieren und experimentieren. Also habe ich mich entschieden, als Freiberufler zu arbeiten“, erzählt er. „Das waren die Goldgräbertage der App-Programmierung.“
Schon als Jugendlicher in Stuttgart beginnt Sascha Konietzke zu programmieren, arbeitet als Webmaster in einem Startup, später studiert er Wirtschaftsinformatik und bekommt einen Job bei Hewlett-Packard. „Mir ist dann aber eigentlich gekommen, dass ich immer am meisten gelernt hatte durch selber probieren und experimentieren. Also habe ich mich entschieden, als Freiberufler zu arbeiten“, erzählt er. „Das waren die Goldgräbertage der App-Programmierung.“
Nach der Gründung von Contentful aber arbeitet er selbst immer weniger als Entwickler. Negri, der aus Mailand kommt, bei Skalierung von Autoscout24 mitgearbeitet hatte und später zum Social- Gaming-Unternehmen Wooga gewechselt war, übernimmt den Posten des CTO, Konietzke macht den CEO: „Am Anfang hat mir da definitiv was gefehlt.“ Doch er wächst schnell in seine neue Rolle hinein: „Viele der Denkweisen als Entwickler sind auch beim Unternehmensaufbau hilfreich, weil man eben sehr logisch und strukturiert über Probleme nachdenkt“, so der App-Programmierer. „Natürlich sind die Teams nicht nur Nullen und Einsen, die rein logisch funktionieren. Da spielen auch Biologie und Gefühle ihre Rolle.“
2019 dann aber macht Konietzke den CEO-Platz frei, wird Chief Strategy Officer. Als CEO holt Contentful den US-Amerikaner Steve Sloan an Board, der Stationen bei Amazon und Microsoft vorzuweisen hat und zuletzt Chief Product und Marketing Officer bei der E-Mail-Marketing-Plattform Twilio Sendgrid war.
Er hilft Contentful nun bei den nächsten großen Meilensteinen. Nächster Stop: Das Unternehmen will eines der einflussreichsten Technologieunternehmen der Welt werden. Bei aller Bescheidenheit, versteht sich.